Erlebtes und Geschautes

Texte, Gedichte und Impulse über Begegnungen mit dem Leben
Systemisches in Paargschichten mit dem Hang zum Perpektivwechsel

12.08.2023

Francis Bacon “Klug fragen können ist die halbe Weisheit”

 
177.jpg„Es gibt keine dummen Fragen, nur dumme Antworten“, sagte Herbert zu dem kleinen, vorpubertären Mädchen, das sich mehr darum bemühte unsichtbar zu sein, als Fragen zu stellen. Das kleine Mädchen war ich und Herbert war mein Patenonkel. Er wollte Mut machen Fragen zu stellen, Zusammenhänge verstehen zu wollen, sichtbar zu werden.
Ich liebte meinen Onkel. Er war anders als die anderen Erwachsenen, die ich kannte. Die Männer und Frauen aus unserer Straße schienen von Ernsthaftigkeit, Strenge und emsiger Geschäftigkeit geprägt zu sein. Herbert nicht. Herbert schillerte und etwas von seinem Schillerstaub fiel auch auf mich.
Einmal nahm er mich mit nach Italien. Mit seiner Frau und seinem Sohn ging es  auf die Reise. Kaum hatten wir die Alpen überwunden,  schob er das Schiebedach seines Autos  so weit wie möglich zurück, rieb seine beginnende Glatze mit stark riechender Kokosmilch Sonnencreme ein und verströmte einen damals finanzierenden Duft. Sonne, Wind und Freiheit wehte auf die Rückbank, trockneten die durchgeschwitzten Hemden und ließen in mir eine erste Ahnung von Leichtigkeit und Selbstbestimmung entstehen.
Herbert starb in den 80 Jahren an AIDS.
Doch zurück zu den klugen Fragen. Im Laufe der nächsten Jahre lernte ich, dass es sehr wohl, sehr dumme Fragen gibt. Z.B. „Warum hast du das gemacht?“ „Was hast du dir denn dabei gedacht?“ „Wer war das?“ „ Was soll das?“
Diese Fragen sind dann keine dummen Fragen mehr, wenn in ihnen das wirkliche Interesse des Fragenden am Tun, Denken oder  Handeln des Gegenübers steckt. Es sind dumme Fragen, wenn sie der Herstellung  von Macht, Hierarchie und einem Gefälle zwischen Fragendem und Befragten dienen und in eine Einbahnstraße aus Rechtfertigung, Verteidigung oder zur kompletten Verstummen des Befragten führen.
Ich lernte auch Fragen kennen, die was ganz anders bedeuten, als ihre Worte vorgeben. Wenn ich nachts auf leisen Sohlen und mit großen Bemühen keine Geräusche zu machen, endlich den Schlüssel in der Haustür drehte, stand meine Mutter im Nachthemd hinter der Tür und empfing mich mit der Frage „Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“
Eine Frage, die die Sorge um ihre ausgeblieben Tochter beinhaltete und vielleicht auch den Ärger über durchgewachte Stunden zum Ausdruck brachte, aber sicherlich nicht das Interesse nach der tatsächlichen Uhrzeit enthielt.
Ich machte das Fragen zum Beruf und lernte die hohe Kunst der klugen Frage. Ich lernte Fragen, Techniken und Haltungen, die es mit Zustimmung des Gegenübers erlaubten, zu inneren Prozessen Zugang zu bekommen.
Ich lernte, dass meine Haltung, die Melodie der Stimme beim Fragen über Verstehen und nicht verstanden werden entscheiden kann.
Ich lernte, dass auch kleine Worte wie „immer“ oder „nie“ eine Beziehung vergiften können.
Ich lernte, dass schon der Austausch eines einzigen Wortes in der Frage von „Warum“ zu „Wozu“, dem Gespräch eine andere Richtung geben kann.
Ich lernte eine Fülle von Fragen, die behutsam und mit größtem Respekt vor der Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung des Gegenübers gestellt, an bisher Ungedachtes, Ungefühltes und Unaussprechliches führen können und den Weg zu Veränderungen und Lösungen einleiten können.
Fragen wie,
„Wieviel Energie bist du bereit auf einer Skala von 1-10 zu investieren, um…zu erreichen?
„ Was sind die Kleinigkeiten, die Sie im Alltag tun, dass sie nicht aufgegeben haben?“
„Wann und wann nicht haben Sie den  „Rucksack der Probleme“ dabei?“
„Wer aus deiner Familie wäre am meisten überrascht, wenn du anfangen würdest für die Schule zu lernen?“
„Was würde es schlimmer machen und  was müsstest du dafür tun, das…“.  Eine Frage mit paradoxer Note, die häufig eine starke Veränderungswirkung entfaltet.
Eine Königin unter den Fragen ist die sogenannte Wunderfrage. Eine zukunftsorientierte, hypothetische Frage, die unser Gehirn in eine andere „Laufrichtung“ bringen kann.
„Angenommen, irgendwann in den kommenden Tagen geschieht über Nacht ein Wunder, und das Problem ist verschwunden. Woran würdest du das merken? Was würdest du tun, was würde deine Frau/dein Mann  tun? Was würdest du mit der freien Energie machen?

Neben der Wunderfrage, gibt es noch eine zweite Königin der Fragen. Die  zirkuläre Frage. Sie ist meine eigentliche Favoritin. Sie ist für uns im Alltag sehr ungewöhnlich, da sie dazu auffordert, das eigene subjektive Bild über das Verhalten oder über die Beziehung der Gesprächsteilnehmer-innen während des Gespräches mitzuteilen.
“ Was glauben Sie, was denkt ihr Mann gerade, während Sie mir von…. berichten“? Oder „Paul, wenn deine Schwester versucht den Streit zwischen dir und deiner Mutter zu schlichten, dein Vater sich raushält, wie reagiert dann deine Mutter?
Es gibt noch eine Vielzahl von klugen Fragen, die ganze Bücherschränke füllen. Geschrieben von Menschen, die an Fragen und Techniken gefeilt haben und den Versuch unternehmen, mit immer präziserem Besteckt, das Problem, den Prozess und die Lösung freilegen zu können.

Mich interessieren Fragen über das Funktionieren von Dynamiken in Beziehungen, ob es Muster gibt, denen wir zu folgen scheinen, wie das innere Skript vom eigenen Leben entsteht. Fragen, die Erkenntnisse liefern, verstehen helfen, wachsen lassen oder Mitgefühl zeigen. Fragen, die helfen, die Matrix der Menschen und ihrer Beziehungen verstehen zu können. Ob sie auf diesem Weg zur Weisheit finden, mag ich nicht entscheiden. Auch wenn es nur die halbe wäre.

Annette Meinecke
Quelle: Hans-Georg Schröder “Vorgedach ubd Nachgedacht” Eine Anthologie, Aphorismen und was sie für uns bedeuten
Foto:  Halde Haniel

Admin - 09:13 @ Systemisches


Über mich
Sozialpädagogin
Systemische Beraterin und Systemische Kinder-und Jugendtherapeutin

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