Erlebtes und Geschautes

Texte, Gedichte und Impulse über Begegnungen mit dem Leben
Systemisches in Paargschichten mit dem Hang zum Perpektivwechsel

24.12.2023

#LebeLiebe

Freundin2.jpgSie und Anneken
Ihre SMS kommt leise. Anneken hört sie nicht, weil sie mit Leben beschäftigt ist. Dann, irgendwann ein Blick auf das Handy. Die kugelige 1 am SMS Symbol sagt ihr, dass sie eine Nachricht bekommen hat. SMS bekommt Anneken nur von ihr.

So lautlos die SMS kommt, so donnernd dringen ihre Worte beim Lesen in Anneke hinein. Die Buchstaben, die Worte, die Sätze, die sie liest, nein, sie liest sie nicht, sie fließen in sie hinein, sie kann sie nicht aufhalten, sie gleiten am Verstehen vorbei , finden ihr Ziel direkt im Bauch. Anneken spürt, wie sich in ihr alles zusammenzieht. Langsam sickern die Worte aus der SMS in die Realität und Anneken begreift, was sie liest. „Ich  will so nicht mehr leben, ich will mein altes Leben zurück, ich denke  jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde daran, es zurück haben zu wollen. Ich will wieder so leben, wie es alle anderen auch tun. Ich weiß nicht, wofür ich so bezahlen muss. Das Bett ist mein Sarg.“

Anneken sah sie zum ersten Mal vor fast dreißig Jahren. Sie stand vor ihr in einer langen Schlage. Anneken sah auf ihren Rücken. Lange schwarze Haare wallten tief hinunter. Ihre Lederjacke und ihre Jeans hatten genau die Patina, die ein Flair von Unabhängigkeit und Freiheit vermittelten.
Sie war jung. Anneken nicht.
Sie war cool und locker. Anneken nicht.
Sie stand in der Reihe, als gehöre ihr die Welt. Anneken gehörte die Welt nicht.
Anneken war abgehetzt am  Immatrikulations-Sekretariat der Hochschule angekommen. Hatte maximal eine Stunde Zeit, länger hatte sie  keine Kinderbetreuung organisieren können.
Anneken war nervös und aufgeregt, ob sie das Studium schaffen würde und wie sichtbar es sein würde,  dass sie auf die 40 zuging und in der Provinz im Eigenheim lebte.
Dann schaute sie sich um. Schaute durch Anneken hindurch auf die Uhr am Ende des Ganges. Ihre  knallroten Lippen, ihre Wimpern bis zum Mond und  ihre hellen blaue Augen ließen Anneken an  Schneewitschen denken.  Ihr Lidstrich sollte in wenigen Jahren durch Amy Winehouse berühmt werden.  Jeder Finger trug einen mächtigen Ring aus Silber, mit denen es ihr unmöglich sein müsste, in eine Hosen- oder Jackentasche greifen zu können. 
Anneken  sah sie. Sie  sah Anneken nicht.
In einer Vorlesung saß sie dann einfach neben Anneken. Danach verloren sich ihre Wege nicht mehr. Jede von ihnen ging durch blaue und graue Tage. Sie  schoben, zogen, lachten und stritten sich durchs Leben. Sie  wuchsen mit- und an einander.

Nun sitzt Anneken in einem kleinen, hübschen, roten Plüschsessel. Sie schaut auf das Bett ihr gegenüber und sieht sie, eine zerbrechliche, blasse Frau, deren Augen an die Decke starren.
Die Decke über ihr scheint der einzige Fixpunkt. Hier drehen sich die Gedanken im Kreis. Seit Monaten. Sie drehen sich um Schuld, der eigenen und der von Ärzten, um die  Angst und die Verzweiflung den Mann und die Kinder verlieren zu können, um die rasende Wut und Ohnmacht nicht mehr Teil eines Lebens außerhalb  dieses Raumes sein zu können. Eingesperrt in sich selbst.
Verzweifelt und gefangen in einem Gedankenkäfig, in dem sie es ganz allein aushalten musst.  Keiner kann zu ihr rein und sie kann nicht raus.
Angestrengt, verzweifelt und hilflos sucht Anneken nach einem Ausgang für sie. Doch wie soll es gehen? Von außen ist keine Tür zu sehen und von innen ist alles dunkel. Aus Verzweiflung und Hilflosigkeit weinen beide.
Sie hält es nicht mehr aus, bittet Anneken  zu gehen. Annekes Lebenskraft macht den Schmerz des Verlustes zu groß für sie. Anneken geht. Anneken schreibt ihr nun  Postkarten. Jeden Montag. Auf die erste Karte schreibt sie… „Ihre SMS kommt leise…“

Admin - 08:14 @ Erlebtes und Geschautes | Kommentar hinzufügen


Über mich
Sozialpädagogin
Systemische Beraterin und Systemische Kinder-und Jugendtherapeutin

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