Erlebtes und Geschautes

Texte, Gedichte und Impulse über Begegnungen mit dem Leben
Systemisches in Paargschichten mit dem Hang zum Perpektivwechsel

26.02.2024

Scham und Schmetterling

Scham.jpgIhre Mutter hatte ihr einen wundervollen Schmetterling auf das Oberteil ihres neuen Kleides gestickt. Weit spannte er in schillernden Farben seine Flügel aus, als  warte er auf den richtigen Moment, sich zu erheben und davon zu fliegen zu können.
Viele Stunden hatte ihre Mutter zum Schneidern des Kleides an der Nähmaschine verbracht und es ihrer Tochter unzählige Male anprobiert. Um die Hände beim Anprobieren und Abmessen des Stoffes frei zu haben, hatte sie einige Stecknadeln mit dem Köpfchen voran in den Mund gesteckt und nahm eine Nadel nach der anderen heraus, um sie im Stoff an der richtigen Stelle zu versenken. Da sie so nicht sprechen konnte, gab sie ihrer Tochter mit einem Nicken oder Drehen des Kopfes die Kommandos, in welche Richtung es sich galt zu drehen, oder welcher Arm für die nächste Stecknadel Straße gehoben werden musste.
Hatten alle Nadeln ihren Platz gefunden, galt es unversehrt aus diesen mit spitzen Nadeln gespickten Stofflappen wieder herauszukommen. 
Wenn sich die Tochter dann ohne größere Verletzungen wieder befreit hatte, läutete das leise Surren der Nähmaschine den nächsten Arbeitsschritt ein.
Nun war es fertig, das Kleid. Es war hellblau, mit Zackenlitze am Saum. Nicht nur der Schmetterling, auch die glockenförmigen  Ärmel machten es zu einem Schmuckstück für Prinzessinnen. Wenn jemals Wind unter die Ärmel fahren würde, könnte man auf ihnen davon fliegen. Ein Band, das auf dem Rücken zu einer großen Schleife gebunden wurde, machte das Kleid vollkommen.
Die Mutter lächelte bei der letzten Anprobe, bevor das Bügeleisen jede Falte glättete und das Kleid zur Vollendung brachte. Die Tochter lächelte zurück und sah die Freude in den Augen ihrer Mutter und drehte und wendete sich vor ihr, wie zum Tanz.
Viel lieber als Schmetterlinge und Glockenärmel mochte sie jedoch die abgetragene Lederhose ihres Bruders. Sie reichte ihr bis zu den Knien und war durch die vielen Jahre als Begleiterin der Kindheit, weich und fast anschmiegsam geworden. Abgeschabte Stellen und Fettflecken legten eine sanfte Patina auf ihre Oberfläche. Die Hosenträger waren vorn zu einem Latz zusammengeführt, auf dem in der Mitte ein prächtiger, röhrender Hirsch aus weißem Hirschhorn prangte. Dem Hirsch war in all den Jahren nichts von seiner majestätischen Würde verloren gegangen. Immer noch in voller Kraft, schien er unverdrossen weiter zu röhren.
Diese Lederhose war ihr die liebste Begleiterin, wenn sie den nahegelegenen  Wald durchstreifte, oder den kleinen Bach, der an der Siedlung vorbeiführte, zu einem Damm aufstaute. Auch wenn beim „Budenbauen“ der weiche Waldboden unter ihr nachgab und sie auf dem Hosenboden die Wald Böschung herunterrutschte, blieb die Hose unversehrt und hielt sie trocken und warm. Keiner fragte am Abend danach, ob die Hose schmutzig, fleckig oder zerrissen war. Die Hose war die Hose, sie blieb die Hose und war unerschütterlich. Mit ihr war sie sie, mit ihr war sie unerschrocken, mutig und abenteuerlustig.
Einmal in der Woche, meist an einem Donnerstag, lief sie an der Hand ihrer Mutter zur Bus-Haltestelle, um in der Nachbarstadt ihre Oma zu besuchen. Ihr Weg führte an den großen Panoramafenstern des Bürogebäudes vorbei, in dem ihr Vater meist telefonierend, in einem der Büros saß. Oft konnte sie ihn von der Straße aus erkennen. Immer wenn sie vorbeiging freute sie sich, wenn er zufällig aufblickte, sie kurz anschaute und ihr ohne den Telefonhörer abzulegen, zunickte und lächelte.
Heute würde er ihr in ihrem neuen Schmetterlingskleid zulächeln, das sie zur Freude ihrer Mutter trug. In Kniestümpfen und Lackschuhen hüpfte sie unter den liebevollen Blick ihrer Mutter die Straße entlang.

Der Linienbus schaukelte sie in die nächste Stadt. Die Straßen waren streckenweis noch in schlechtem Zustand und auf Kopfsteinpflaster rumpelte sich der Bus voran. Mitunter gab es große Schlaglöcher und alle Leute im Bus schienen gleichzeitig zu stöhnen, wenn ein Rad des Buses in ein Schlagloch geraten war. Es gab viele Löcher, die es zu umfahren galt. Löcher gab es in dieser Zeit nicht nur in der Straßendecke, sondern auch in den Erinnerungen der Menschen. Auf Familienfeiern wurden die Erinnerungslöcher  mit Rinderbraten, Kartoffeln und  Erbsen mit Möhren gefüllt. Fiel dann doch jemand unerwartet in ein Erinnerungsloch, gab es mindesten einen am  Tisch, der das Loch mit den Worten „das ist vorbei“ füllte und die Erbsen sich wieder freudig mit der Bratensoße mischen konnten.
„Schwangerschafts-Unterbrechungs-Straße“ wurde dieser marode Teil der Straße oft genannt. Sie spürte, dass dieses Wort einen Unterton besaß, den sie nicht entziffern und verstehen konnte. Die Erwachsenen, die dieses Wort benutzten, taten es mit Spott, Verachtung und schlüpfriger Zweideutigkeit. Es war Ende der sechziger Jahre und es sollte noch zwei Jahre dauern, bis 1971 berühmte Frauen  auf dem Titelbild einer Illustrierten bekannten, dass sie abgetrieben hätten.
Angekommen bei der Oma begann immer dasselbe Ritual. Einmal durchwischen, zum Grab des Opas gehen, Kaffeetrinkern und am Abend wieder nach Hause.
Manchmal hatten sie noch etwas Zeit und sie besuchten ihre Tante und ihren Patenonkel. Sie hatte zwei Patenonkel und mit beiden hatte sie richtig Glück gehabt. Beide hießen Herbert, beide mochte sie sehr. Der eine Herbert war schwul, der andere Herbert war Bäcker und hatte in der Nachbarschaft Ihrer Oma eine Bäckerei, mit den besten Backwaren der Welt.
Der Höhepunkt jeden Besuches war der Gang in die Backstube. Der wohlig, warme Geruch, der aus den großen Öfen strömte, ließen ihr Herz immer überfließen vor Glück. Auf riesigen Blechen lagen Rosinen-und Nussschnecken, Puddingbrezeln und Apfelplunder. In den Regalen standen aufgereiht die Torten, die noch ihren Weg in den Verkaufsraum der Bäckerei finden mussten. Aus all dem durfte sie sich aussuchen, was sie haben wollte. Sie allein konnte aus der Fülle wählen, was ihr Herz begehrte. Fast immer  fiel ihre Wahl auf Käsesahne Torte. Ihre Lieblingstorte.
Diesmal war es anders. Die Torten waren schon eingefroren und die Hefeteilchen ausverkauft. Heute sollte sie  leer ausgehen. Ohne ihre Enttäuschung preis zu geben, ging sie zurück zu ihrer Mutter und  ihrer Tante. Dann kam Onkel Herbert, in der Hand eine Nussschnecke und sagte, dass er doch noch was für sie gefunden habe. Mit glücksumströmten Augen, dass er sie nun doch nicht vergessen hatte, nahm sie die Nussschnecke und biss mit Wonne hinein. Ihre Zähne prallten ab, mit einem dumpfen Knack und gefrosteten Lippen verstand sie, dass die Schnecke noch gefroren war. Alle um sie herum lachten. Wie ein Messer bohrte sich das Lachen in ihre Brust. Sie schlug die Augen nieder, die Röte flammte in ihr Gesicht. Der Boden sollte sich auftun. Der Schmetterling auf ihrem Kleid sah nun lächerlich und hässlich aus und versagte ihr den Dienst, mit ihr davonzufliegen. Neben der Scham, die sie beim Lachen der Erwachsenen durchfuhr, stieg unbändige Enttäuschung und Wut in ihr auf. Ihr Onkel, der sie immer in das Paradies der Backstube mitgenommen hatte, lachte sie aus. Ihre Mutter hatte ebenfalls  in das Lachen der anderen mit eingestimmt. Keiner stand ihr zur Seite und verstand das Ausmaß der Beschämung. Sie fühlte sich bloßgestellt bis auf die Haut. Jeder konnte es sehen, wie dumm sie war, eine gefrorene Nussschnecke  nicht von einer Frischen unterscheiden zu können. Jeder konnte ihre Scham und ihre Enttäuschung sehen, veralbert worden zu sein. Veralbert  von Menschen, die sie gern hatte und bei denen sie sich sicher fühlte.
Nichts hasste sie in diesem Moment so sehr, wie ihr Schmetterlingskleid mit Glockenärmeln und nichts wünschte sie sich in diesem Moment so sehr herbei, wie den röhrenden Hirschen, der unerschrockenen zwischen den Trägern ihrer Lederhose brüllte.

Admin - 10:52 @ Erlebtes und Geschautes | Kommentar hinzufügen


Über mich
Sozialpädagogin
Systemische Beraterin und Systemische Kinder-und Jugendtherapeutin

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