In meinem Blog "Annettes-Schreibzeug" erzähle ich Geschichten von Menschen, von Ereignissen, sammle besondere Momente und nehme Bezug auf aktuelle Themen der Zeit. Ich freue mich, euch Lori vorstellen zu dürfen. Sie ist als Gast ins Schreibzeug eingezogen und wird uns im „Lori Journal“ an ihren Gedanken teilhaben lassen.
Neuigkeiten im Schreibzeug | ![]() |
21.06.2025, 15:32
Hersteller verkürzen geplant die Lebenszeit ihrer Produkte. Die „Geplanten Obsoleszenz“, die konzeptionell vorgesehene vorzeitigen Produktvergreisung, trägt maßgeblich zu unserem Wohlstand bei. Ist doch irre?... mehr
15.06.2025, 14:44
Im Maildialog zwischen Astrid und Annette entsteht Mail für Mail ihre Geschichte, die mit dem Satz „Er hielt seine Küche stets in Ordnung, machte sich aber immer wieder schuldig“ verbunden ist. mehr
22.06.2025
Herr Lagemann war mindestens 1,90 m groß, von eher schlaksiger Gestalt, was im Kontrast zu seiner auffallend korrekten Kleidung stand. Sein starkes Kinn und seine zusammengezogenen Augenbrauen erinnerten an einen Raubvogel auf Beutefang.
Er war im Krieg gewesen, im zweiten Weltkrieg. Damals fast noch ein Kind, hatte überlebt und unterrichtete nun Mathematik, Physik und Chemie. Er forderte Disziplin von sich und seinen Schülern, war niemals krank und immer pünktlich. Nicht selten warf er ohne Vorankündigung mit Kreidestücken nach Schülern, die unaufmerksam waren. Besonders gefürchtet war seine kompromisslose Konfrontation mit Wissenslücken, die die Betroffenen beschämt und ohnmächtig zurückließen. Ein kurzes Nicken mit dem Kopf war das Höchstmaß an Anerkennung, das von ihm zu bekommen war. Immer etwas mehr zu können, als das, was gerade verlangt werde, war sein Leitsatz. „Wenn du über Gäben springen musst, die 3 Meter breit sind, musst du sicher über 3,50m springen können“, resümierte er.
Doch es gab Tage, an denen seine Gesichtszüge weicher waren, sein Blick offen und freundlich. An diesen Tagen ging er nicht wie gewohnt an die Tafel, um dort zu Beginn des Unterrichtes fein säuberlich das Thema der Stunde aufzuschreiben, sondern setzte sich auf das Pult, schaute in die Runde und begann zu reden. Er erzählte von den heulenden Sirenen, die die Luftalarme begleiteten, von Nächten im Bunker und den immer gepackten Koffern unter den Betten seiner Mutter und seiner Geschwister.
In kleinen Geschichten und Episoden öffnete er einen spaltbreit seine betonumschalten Erinnerungen. Die Starre und Steifheit wichen. Manchmal glaubte man es knacken zu hören, wenn diese Verhärtung aufbrach und aus ihm herausfloss, was er zu geben hatte. Doch er blieb sparsam im Geben. Es schien, als könne es nur portionsweise geschehen, dass von Zeit zu Zeit und in festgelegtem Maß ein verletzlicher Teil von ihm zum Vorschein kommen konnte.
An einem dieser „Pult-Sitz Tage“ wurde die Laufmasche der thematische Schwerpunkt seiner Stunde.
Damals waren sogenannte “Perlon-“ oder „Seidenstrümpfe“ das Kleinod einer jeden Frau und die Laufmasche ihr gefürchtetes „worst case“. Ich kannte es von meiner Mutter. Sie wusch ihre Seidenstrümpfe immer besonders behutsam und legte sie nach dem Trocknen in ein speziell für diese Strümpfe gefertigtes, schwarzes Lacktäschchen, das für jedes Paar ein extra Fach bereithielt.
Die Laufmasche geriet zur Königin der Unterrichtsstunde von Herrn Lagemann. In seiner Rede über dieses „Strumpfphänomen“ spannte er einen weiten Bogen vom mitmenschlichen Zusammenhalt bis hin zu den Grundzügen des Kapitalismus. Die Laufmasche als Symbol fehlender Solidarität und als Motor der Konsumgesellschaft.
Auf dem Pult sitzend und mit kleinen Bewegungen seiner Hände das imaginäre Auseinanderziehen eines Strumpfs nachahmend, begann er seine Gedanken weiter auszuführen. Der kleinste Riss eines einzigen Fadens leite eine Kettenreaktion am ganzen Strumpf ein. Alle Maschen unterhalb des Risses verlören nun ihren Halt, was dann die von Frauen so sehr gefürchtete Straße von lauter haltlosen Maschen zur Folge habe.
Deutsche Ingenieure könnten Strumpfhosen herstellen, die niemals eine Laufmasche bekämen. Das wäre technisch kein Problem. Doch unsere Wirtschaft brauche das Prinzip der Laufmasche, damit sie funktionieren könne. Die Dinge müssten kaputt gehen, damit wir im Wohlstand leben könnten.
Der Gedanke faszinierte mich. Noch nie hatte ich darüber nachgedacht, dass mein Plattenspieler aus rein kapitalistischen Gründen kaputt gegangen sein könnte und mich der eingebaute und zwangsläufige Defekt von der Schuld befreien würde, an der Ursache des Defektes beteiligt gewesen zu sein.
Doch das Hersteller die Lebenszeit ihrer Produkte geplant und absichtlich verkürzten, verwirrte mich. Sie ließen meine Mutter also immer wieder neue Seidenstrümpfe kaufen, obwohl es möglich wäre laufmaschenfreie Strümpfe herzustellen.
Die Rechnung der „Geplanten Obsoleszenz“, also der konzeptionell vorgesehen vorzeitigen Produktvergreisung, sollte in den folgenden Jahren hervorragend aufgehen. Angeschaffte Sitzmöbel verschlissen, Autos rosteten und die Motoren der Küchenmixer und Schneidemesser blieben irgendwann stehen. Niemand reparierte mehr. Die neuangeschafften Dinge waren meist größer und teurerer, als die zuvor. Der Wohlstand wuchs und der Müllberg ebenso.
Der geplante Verschleiß als Marketingstrategie ist inzwischen als Normalität in unserem Leben allgegenwärtig. Die geringe Halbwertszeit von Gütern ist in unserem Denken als Fakt verankert und wird nicht mehr in Frage gestellt. Das „Kaputtgehen“ als Wirtschaftsfaktor, eine Sollbruchstelle für den Wohlstand. Eine Sollbruchstelle auf Kosten ausgebeuteter Menschen und der ausgebeuteten Natur. Eine Sollbruchstelle an der wir zu ersticken drohen.
Admin - 01:03:57 | Kommentar hinzufügen
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